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Ein Brief aus Istanbul

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(English translation)

Der Gezi-Park ist wie eine Quelle des Widerstandes. Auch an den Werktagen strömen so viele Menschen hier her. Alles andere ist gerade unwichtig: Arbeit, Uni, Reisepläne. Ein Seminar meines Instituts wird in den Park verlegt, Hausarbeiten und Klausuren werden spontan über die aktuelle Situation in der Türkei geschrieben, Yoga-Kurse im Park veranstaltet.

Auf dem Weg in den Park begegnen wir einer Frau mit 6 großen Einkaufstüten. Wir bieten ihr Hilfe beim Tragen an, alles sind Spenden. Wir bringen sie zu einem der Stützpunkte, die hier im Park eingerichtet wurden. Der größte ist im alten Teegarten. Dort findet sich alles was man braucht: Wasser, Essen, Medikamente, Decken und vieles mehr. Ein befreundeter Medizinstudent hilft dort im Ärzteteam mit, auf einem Tisch sind gespendete Medikamente und vor allem Talcid, Essig und Milch. Die wichtigsten Utensilien für die Behandlung nach einer Gasattacke. Sogar eine Bahre wird gebaut um Verletzte direkt hier her befördern zu können.

Hier im Teegarten ist auch die Küche, in der kostenlos Essen verteilt wird. Aber man muss sich gar nicht hier her begeben um zu essen, denn kaum hat man sich ein freies Fleckchen grün ergattert und hingesetzt, kommt jemand und verteilt Essen und Trinken.

Immer mehr Menschen bringen nützliche Dinge mit den Park, man richtet sich ein in der neuen Festung. Betten werden gebaut, Hängematten befestigt, musiziert, gesungen (bella ciao ist ganz vorne mit dabei) und getanzt. Eine Gruppe macht eine Tanzperformance, es werden verschiedene workshops angeboten, Bäume werden geschmückt und Graffitis gesprüht.

An einer Ecke wird Erde umgegraben um einen Garten einzurichten. Freund_innen von mir waren dafür in Eminönü, ein ganzes Stück vom Ort des Geschehens entfernt um dort Spaten, Erde, Tomatenpflanzen etc. zu besorgen. Sie bekamen die Sachen teilweise geschenkt, als sie ihr Vorhaben kund taten. An einer anderen Ecke wird eine kleine Bibliothek errichtet. Die Materialien für all diese tollen kreativen Aktionen finden sich leicht, denn an den Park grenzt die riesige Baustelle an, in der alles gefunden wird, was man so braucht: Blech, Bretter, Nägel, Steine, Kabel, Stahl und so viel mehr.

Das Attatürk-Kultur-Zentrum am Taksimplatz steht momentan wegen Renovierungsarbeiten leer und wird auch kurzerhand okkupiert, denn es befindet sich ja im abgesicherten Gebiet. Flaggen und Banner werden daran aufgehangen, zwei Musikerinnen nutzen den Klang und spielen Geige.

Ich habe heute wieder eine große Runde um den eingenommenen Bereich gedreht und mir ein Bild über die Lage verschafft. Die Barrikaden sind so gut in einer der größten Zufahrtsstraßen zum Taksim sind allein 14 Barrikaden hintereinander aufgetürmt. Der ganze Verkehr der hier normalerweise durchläuft funktioniert ohne Umleitungen nun irgendwie anders.

Das sind die unglaublich wichtigen positiven Seiten dieses Widerstandes der sich gegen die Regierung und ihre restriktiven Gesetze richtet. Andere Städte haben diesen Ort nicht. In Ankara, Izmir und weiteren Großstädten kam es zu heftigen Auseinandersetzung. In 90 weiteren Städten blieben die Proteste friedlich. Wahrscheinlich ist die Polizei dort nicht so gut ausgerüstet mit Gas und Wasserwerfern. Auch in Istanbul verläuft die Nacht nicht ohne Tränengas, denn grad höre ich wieder Schüsse und eine Freundin erzählt, dass sie an der Gümüssuyu Gas abbekommen hat. Der Hubschrauber kreist überm Park und die Pfiffe und Buuh-Rufe die dieser auslöst sind bis in meine Wohnung zu hören. Trotz Müdigkeit muss ich wieder in den Park und mir Kraft holen aus dieser Quelle des Widerstandes.

Read the English Version of this letter

 

2 Responses to Ein Brief aus Istanbul

  1. Pingback: A letter from Istanbul | Everyday Rebellion

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Latest comments

[...] Read the letter in German [...]..."

by A letter from Istanbul | Everyday Rebellion, June 10, 2013

Well done Judith! Berichte weiter so!..."

by Vera O., June 6, 2013