Share

Ein Brief aus Istanbul / Teil 6

Articles Blogger Language:    Author:   

Ihr Lieben,
Die letzten drei Wochenenden war ich auf den Prinzeninseln und es hat so gut getan weit weg zu sein von Taksim und Park, denn in letzter Zeit verfluche ich die zentrale Lage meiner Wohnung. Jeden Tag sehe ich Polızei, Wasserwerfer, jeden Tag frage ich mich, wie es wohl aussieht, wenn ich hoch gehe zum Taksim-Platz. Im Restaurant oben an meiner Straße hat sich die Polizei eingerichtet, ein Bild, an das ich mich nicht gewöhnen kann. Jeden Tag die gleichen Bilder. Das ist ermüdend. Die Ereignisse hier sind schon so alltäglich geworden, dass ich sie als gar nicht mehr berichtenswert empfinde.
Es scheint nicht erstaunlich, dass ein frisch verheiratetes Pärchen, das letztes Wochenende vom Standesamtmit Freunden und Familie, Slogans rufend in den Park zieht und noch viel weniger erstaunlich scheint es, dass die Veranstaltung kurze Zeit später mit Tränengas gewaltsam aufgelöst wird.
Es scheint nicht erstaunlich, dass auf der Hauptpolizeiwache, zu der ich für die Aufenthaltsgenehmigung gehe, meine Tasche durchleuchtet wird und mich der Polizist allen Ernstes fragt: “Haben sie Pfeffergas dabei?” Ich muss lachen, aufgrund der absurden Situation und zeige ihm mein Deo-Spray. İch bilde mir ein, auch er hat die Ironie seiner Frage bemerkt.
Es scheint nicht erstaunlich, dass der Straßenmusiker, der mit seiner Trommel an mir vorbeigeht, leise die Prostestrufe in musikalischer Weise vor sich hin singt. Es scheint nicht erstaunlich, dass die Kneipe in der wir uns immer treffen und die vornehmlich von irgendwie alternativ aussehenden Menschen besucht wird, ohne ausreichende Vormahnung für drei Tage dicht gemacht wird. Das ist alles nicht mehr erstaunlich, sondern irgendwie trauriger Alltag geworden.
Es ist Alltag zu lesen, wer wieder alles verhaftet wurde, Alltag, dass irgendein AKP-Getreuer sexistische Aussagen macht und sich daraufhin von der jeweils angegriffenen Gruppe (zuletzt waren es schwangere Frauen, die dazu angehalten wurden sich bitte ab dem 7. Monat nicht mehr auf der Straße zu bewegen) in Windeseile ein Prostest organisiert wird. Siehe bianet.
Es ist Alltag, wenn der Park mal wieder abgesperrt wird, weil sich dort Menschen versammeln wollen, sogar wenn es um eine Versammlung zum gemeinsamen Fastenbrechen geht. Siehe bianet.
Es ist Alltag, dass ich Polizei Absperrungen umgehen muss und mich mit einer Freundin nicht am verabredeten Treffpunkt treffen kann, weil da auch mal wieder abgeperrt ist.
All das scheint nicht mehr berichtenswert und das denken sich wohl auch die Medien. Umso schlimmer eigentlich, denn der Widerstand geht weiter und die Menschen könnten Öffentlichkeit und internationalen Druck weiterhin gebrauchen.

Liebe Grüße aus dem Protest-Sommerloch,

Judith

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *