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Ein Brief aus Istanbul / Teil 5

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Glück im Unglück

Gestern gegen 20h machen wir uns wieder auf in den neu eröffneten Gezi Park. Auf der Istiklal sind bereits Demonstrierende versammelt und rufen, oben am Platz postieren sich Richtung Istiklal mal wieder Wasserwerfer und Polizei, die, wie eine Freundin so schön sagt, in ihren kleinen schwarzen Plastikrüstungen aussehen wie Ninja Turtles. Wir kommen auf den Platz und sehen, dass Tische und Stühle aufgebaut sind, denn der Fastenmonat Ramazan hat begonnen (wie ich heute morgen um 3.30h mit Trommeln auf meiner Straße unverkennbar bemerkte) und es gibt nach Sonnenuntergang ein kostenloses Essen (genannt Iftar, etwa Abendmahl oder Fastenbrechen), organisiert von der Stadtverwaltung. Hier wollen wir nicht bleiben und gehen in den Park. Doch der ist vergleichsweise leer und der sterile Anblick ist irgendwie zermürbend. Es ist komisch ihn nach so langer Zeit nun wieder zu durchqueren. Alles ist piekfein herausgeputzt und „schön“ gemacht. So sah der Park auch vor der Besetzung nicht aus und es ist klar, dass dies einzig zu Prestige Zwecken so angelegt wird. Die Regierung behauptet, nun sei der Park endlich wieder zugänglich für alle Bewohner Istanbuls, was er angeblich zu Zeiten der Besetzung der Demonstrierenden nicht war…
Gegen 21.h als ich nach Hause gehe ist der Park noch leer und ich bin irgendwie enttäuscht. Ich frage mich, was dieser ganze Kampf bringt, wie ich mich noch einbringen kann, wann sich endlich was zum Positiven verändert. Immer diese Nachrichten: Verhaftungen der Leute, die sich seit Jahren für den Erhalt des Parks und gegen die krasse Stadterneurung einsetzen, Verhaftungen von Anwälten, Parteimitgliedern, Polizisten die „Allah“ rufend durch die Straßen ziehen. Wo ist der Geist der Bewegung hin? Kurze Zeit später höre ich jeodch, dass die antikapitalistischen Muslime und viele andere Demonstrierende ein riesig langes Iftar (Abendmahl), die Istiklal entlang organisiert haben. Menschen setzen sich in zwei Reihen entlang der langen Einkaufsstraße auf dem Boden, gegenüber in der Mitte ist das Essen aufgebaut. Alle bringen etwas mit und es gibt ein meterlanges Essen vor den Wasserwerfern.
Was geht in den Köpfen der Polizisten ab? Was geht hier eigentlich ab? Nach all meinem Unmut bin ich nun wieder voller Bewunderung für diese Menschen, für diesen Ideenreichtum, das Durchhaltevermögen, (dass mir grade noch abhanden kam) für die Spontanität und Liebe, mit der diese Bewegung am Leben erhalten wird. Es ist einfach nur beeindruckend und in all dem Unglück, das diese Regierung verursacht, gibt es doch Glück!

Liebe Grüße Judith

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